Sylaris – Zwischen Licht und Schatten – Kapitel 1 Part 2

Vela trat durch die letzten Sicherheitsschleusen, und vor ihr entfaltete sich die Empfangshalle des Flughafens von Sylaris wie ein offenes Meer aus Licht, Bewegung und Magie. Magische Hologramme glitten schwerelos durch die Luft, zogen über die Köpfe der Reisenden hinweg – manche warben bunt flackernd für Kleidung auslebenden Fasern, andere zeigten Wetterprognosen, politische Nachrichten oder einfach nur tanzende Lichter. Die Wände bestanden aus schimmerndem Kristall, der das Umgebungslicht in Tausende von Farben brach und den gesamten Raum mit einem Regenbogenschimmer füllte, der in Velas Augen flackerte wie Glut im Wasser.
Es war viel. Zu viel. Vela blieb stehen. Der See in ihr – ihr innerer Kern, ihre Magie – schwappte unruhig, fast drohend über den Rand. Sie spürte die Strömung unter ihrer Haut, diese flüssige Unruhe, als wäre die Magie selbst überwältigt von allem, was sie hier berührte. Wie ein Tier, das plötzlich zu viel Raum spürte. Sie zwang sich zu atmen. Tief. Langsam. Magie schmeckte hier wie ein Tropfen auf der Zunge – süß, schwer, elektrisch. Ein Schritt. Dann der nächste.
Ihr Blick wanderte durch die Menge. So viele Fae. Jede Farbe, jede Form, jede Bewegung schien eine Geschichte zu sein. Einige trugen Gewänder, die im Takt ihrer Magie leuchteten. Andere hatten leuchtende Tattoos auf der Haut, die sich bewegten wie Tinte im Wasser. Ein winziger Wind-Fae schwebte auf einem Papierdrachen durch die Halle, während ein Erd-Fae an einer lebenden Pflanze kaute, die ihm aus der Schulter wuchs. Vela kannte all das aus Büchern. Aus Erträumtem. Jetzt stand sie mittendrin, und es wirkte überwältigend echt. Kein Traum, keine Flucht. Echt.
Ihr Magen knurrte leise. Sie entdeckte einen kleinen Eldermart – ein Lebensmittelmarkt, eingebettet in einen Bogen aus Licht und Holz, der aussah, als sei er aus einem einzigen Baum gewachsen. Der Duft von frischem Gebäck, warmem Obst und gerösteten Nüssen füllte die Luft. Ihr Magen entschied: Jetzt. Im Inneren stand eine Fae mit violettem, kunstvoll aufgestecktem Haar hinter einem Tresen. Ihre Kleidung war schlicht, dunkel, mit einem Blazer, auf dessen Brust das Logo des Marktes in Silber gestickt war. Sie wirkte effizient, aber nicht unfreundlich.
„Entschuldigung“, begann Vela und zwang sich zu einem freundlichen Ton, obwohl ihre Stimme von Müdigkeit getragen war. „Was können Sie mir empfehlen?“ Die Fae drehte sich zu ihr um und schenkte ihr ein Lächeln, das echt wirkte. Nicht aufgesetzt. „Alles. Aber wenn du fragst … Sonnenfrucht-Pita. Beliebt, süß, ein bisschen scharf. Und dazu: Gläserne Limo. Macht wach. Und ein bisschen glücklich.“ – „Perfekt. Ich nehme beides.“
Vela bezahlte, verstaute drei der Pitas und ein paar Flaschen Limo in ihrer Tasche, nahm den Rest mit zur nächsten freien Bank im Wartebereich und ließ sich auf einer der geschwungenen Bänke nieder. Die Bank war aus schimmerndem Material geformt, das sich ihrer Körperform leicht anpasste – Magie, die Komfort verstand. Der erste Bissen war eine Offenbarung. Süße Frucht, cremige Nuss, ein Hauch von Gewürz. Der zweite Bissen kam ohne Nachdenken. Sie schloss die Augen.
Der See in ihr beruhigte sich. Nicht still, aber heller. Ruhiger. Sie war angekommen. Noch wusste sie nicht, wohin sie gehörte. Aber sie war hier. Der erste Bissen der Pita war wie ein Aufwachen. Süß. Sauer. Ein Hauch Schärfe. Wie eine Erinnerung, die man nicht abrufen konnte, aber doch spürte. Die Texturen, die Aromen – sie war wieder ganz Körper, ganz jetzt. Alles andere – das Gepäck, die Menschen, der Lärm – verschwamm.
„Hey, du bist auch neu hier, oder?“ Die Stimme war tief, angenehm. Kein Aufdrängen, nur Neugier – vorsichtig verpackt, wie ein Gespräch, das sich nicht aufdrängt, sondern einlädt. Vela öffnete die Augen.
Vor ihr stand ein Fae, dunkelhäutig, mit kurz geschnittenem, glänzendem Haar. Er trug ein schwarzes Shirt, eine locker fallende Hose, nichts Auffälliges – aber er wirkte, als würde er sich in jedem Raum zurechtfinden. Seine Haltung war entspannt, seine Ausstrahlung ruhig, wie jemand, der seinen Platz kennt, auch wenn er gerade erst angekommen ist.
„Mein Name ist Hector. Wie heißt du?“ – „Vela.“ Ein Lächeln zuckte über ihr Gesicht. „Hey. Woher kommst du?“ – „Vom nördlichen Festland. Und du?“ – „Auch vom Festland.“ Sie rückte ein Stück zur Seite, machte Platz, obwohl er längst neben ihr saß.
„Ich will mich den Wächtern anschließen“, sagte sie schließlich. Seine Brauen hoben sich leicht. „Wächter? Das ist… ambitioniert. Sie halten hier Ordnung, bewahren den Frieden. Ist nicht nur Magie und Glanz, weißt du?“ Vela nickte, kaute nachdenklich an ihrer nächsten Antwort. Dann schluckte sie. „Ich bin Seelenweberin. Ich möchte mich bei den Heilern bewerben. Ich habe… Vorkenntnisse.“
Ein kurzer Moment Stille. Doch Hector runzelte nicht die Stirn. Keine plötzliche Kühle, keine Distanz. Nur ein leichtes, langsames Nicken. „Das ist eine Gabe. Wenn man weiß, wie man sie richtig nutzt.“ Vela senkte den Blick – nur für einen Herzschlag, aber es reichte. Vielleicht war es das. Vielleicht konnte es das hier wirklich werden: ein Ort, an dem ihre Gabe nicht als Gefahr galt. Sondern als Möglichkeit.
In diesem Moment traten zwei weitere Fae an sie heran – wie zufällig. Aber Vela spürte, dass in Sylaris kaum etwas wirklich zufällig war. Der eine war ein Luft-Fae: schmal, fast durchsichtig in seiner Erscheinung, mit silbernem Haar, das wie Nebel im Wind lag. Er bewegte sich mit der Leichtigkeit einer Brise, als sei er nie ganz anwesend. Der andere wirkte wie sein Gegenteil – ein Erd-Fae, mit ruhigen Augen und Kleidung, die in Moosgrün und Lehmbraun schimmerte. Er hatte etwas Verlässliches an sich, als könnte er jederzeit Wurzeln schlagen, wenn er nur still genug stand.
Sie begrüßten sich mit leisen Worten, einem kaum spürbaren Nicken – und es war schnell klar: Auch sie waren neu. Frisch angekommen, mit Fragen im Blick und einer Haltung, die irgendwo zwischen Neugier und Nervosität schwankte. Alle auf der Suche nach einem Platz in dieser vibrierenden Stadt.
„Habt ihr Lust auf ein Elementarwürfelspiel?“, fragte der Luft-Fae. Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ er einen glitzernden Würfel aus seinem Ärmel in die Hand gleiten – beiläufig, als wäre das nichts Besonderes. Doch es war etwas Besonderes. Er wirkte wie jemand, der selten stillsteht, dessen Leben aus fließenden Momenten bestand.
Vela schüttelte sanft den Kopf. „Nein, danke“, sagte sie ruhig, aber freundlich. Kein Urteil, kein Rückzug. Nur Klarheit. Sie war nicht hier, um zu spielen.
Hector hingegen grinste, zuckte mit den Schultern und erhob sich. „Si, warum nicht?“
Vela trat einen Schritt zurück, lehnte sich gegen eine der geschwungenen Banklehnen und beobachtete. Die drei Fae warfen ihre Würfel mit fließenden Gesten in die Luft. Magie zuckte zwischen den Bewegungen – Wind, Erde, ein Hauch von Glut. Die Würfel drehten sich, glühten in der Luft, als seien sie selbst kleine Planeten im Spiel ihrer Elemente.
Sie verstand die Regeln nicht. Vielleicht gab es auch keine. Vielleicht war das Spiel nur eine Art, Präsenz zu zeigen, Zugehörigkeit zu testen.
Dann, ein Flackern. Nicht im Licht, sondern in der Atmosphäre.
Die Magie wurde schwerer.
Zwei Gestalten traten in die Halle. Nicht laut. Nicht eilig. Aber die Luft wusste es zuerst. Sie spannte sich, wurde dichter, als wollte sie anhalten.
Zwei Wächter von Nerathis. Ihre Rüstungen schimmerten in Gold weiß, von der Art, die Geschichten schrieb. Der eine war ein Feuer-Fae – hochgewachsen, jede Bewegung präzise, seine Rüstung klirrte leise, wie ein entferntes Glockenspiel. Sein Gesicht war ernst, aber nicht hart. Der zweite – ein Schatten-Fae – war stumm wie Rauch, sein Blick jedoch durchdringend. Als würde er nicht sehen, sondern begreifen.
Beide trugen Flügel. Keine aus Federn oder Stoff – sondern reine Magie. Flammen, verdichtet zu Gestalt, Dunkelheit, die leuchtete. Und in diesen Flügeln lag mehr als Zierde. Sie waren Zeichen. Warnung. Versprechen.
Vela konnte den Blick kaum abwenden.
So also sah Macht aus, wenn sie keine Worte brauchte.
„Sind hier illegale Spiele im Gange?“ Die Stimme des Feuer-Fae war ruhig. Aber in ihr lag eine Kante, eine unausgesprochene Schärfe, die keine Ausflüchte duldete.
Die Gruppe erstarrte. Der Erd-Fae spannte sich merklich an, der Luft-Fae lächelte zu schnell. Hector war es, der zuerst sprach – gelassen, aber aufrecht: „Nein. Nur zum Zeitvertreib.“
Ein Blick wurde zwischen den Wächtern gewechselt. Ein Nicken folgte. Kein weiterer Kommentar. Keine Erleichterung. Nur stille Autorität, die sich nicht erklären musste.
Vela spürte ihren Moment. Noch während sich alle Augen auf die Szene richteten, griff sie nach dem Griff ihres Koffers und löste sich lautlos aus der Gruppe. Ihre Schritte waren leise, fast schwebend – als hätte sie sich unbemerkt in einen Windhauch verwandelt.
Sie trat zur Fensterfront. Lehnte ihre Fingerspitzen gegen das kühle Glas.
Draußen: die Landebahnen. Flugzeuge, die aufstiegen, andere, die sanft aufsetzten. Bewegungen, Kommen und Gehen – wie Atemzüge einer Stadt, die niemals stillstand.
Und sie? Stand nun mittendrin. Bereit, Teil dieses Rhythmus zu werden. Bereit, sich zu verlieren – um sich wiederzufinden.
Der Himmel war noch immer grau, aber das Licht hatte sich verändert – weicher jetzt, als hätte jemand einen Schleier gelüftet, ohne ihn ganz zu heben. Sanft, offen, fast als würde die Stadt selbst sich zeigen wollen, aber nur ein bisschen. Vela atmete tief ein. Ihre Magie regte sich, flackerte leise unter ihrer Haut. Kein Warnsignal. Nur Neugier. Ein Kribbeln wie vor einem Sprung, bei dem man nicht weiß, ob man fliegt oder fällt. Wie würde ihr Leben hier aussehen? Was war sie – hier, in dieser Stadt, die mehr war als Straßen und Gebäude, sondern Möglichkeit in Reinform? Vielleicht war es ein Anfang. Ein leiser. Ein echter. Und vielleicht, wenn sie vorsichtig genug ging, würde sie herausfinden, wer sie sein konnte, ohne sich ständig selbst festzuhalten.
„Vela Meerwyn, bitte zu Schalter Eins.“ Die Stimme war monoton, zu gleichgültig für einen Moment, der sich für Vela so schwer anfühlte. Ihr Name klang zwischen all der fremden Hektik fehl am Platz. Fast zu persönlich, zu weich für die harte Kante der Umgebung. Sie zog ihren Koffer näher, der Griff fest in der Hand, und trat vor.
Hinter dem Schalter saß eine Feuer-Fae, deren Gesicht keine Wärme kannte – nur Struktur. Ihre Augen funktionierten wie Werkzeuge. Kein Lächeln. Kein Hallo. Nur ein einziger Blick, messerscharf und effizient. Das Haar war streng zurückgestrichen, kein Härchen fehl am Platz, als hätte auch ihre Erscheinung eine Dienstvorschrift.
„Ausweis.“ Nicht als Frage. Als Befehl.
Vela reichte das Dokument, ruhig in der Bewegung, obwohl sich in ihrem Inneren alles anfühlte wie eine gespannte Saite, kurz vor dem Reißen. Die Fae nahm es entgegen, kaum ein Blick. Dann nur ein Wink, nüchtern, fast verächtlich beiläufig. „Folgen Sie mir.“
Sie wandte sich um, und mit jedem Schritt, den sie tat, stoben kleine Funken aus der Luft – rotgolden, präzise. Hitze in kontrollierter Form. Magie wie Marschmusik. Vela beeilte sich, mit ihrem Schritt zu halten. Ihre eigenen Schritte klangen leiser, vorsichtiger, fast entschuldigend – als betrete sie einen Ort, der nicht für sie gemacht war.
Sie betraten ein kleines, funktional eingerichtetes Büro. Kühle Farben, glatte Flächen, alles aufgeräumt bis zur Sterilität. Nur die Magielichter an der Decke schwebten in leisen Bahnen, wie Gedanken, die noch keine Worte gefunden hatten. Die Feuer-Fae griff nach einem Stapel Broschüren, als hätte sie das hundertmal getan, und jedes Mal mit derselben mechanischen Geste und sagte: „Möchten Sie eine Wohnung mieten oder zunächst im Hotel unterkommen?“
„Hotel… bitte.“ Velas Stimme war leise, fast tonlos, aber sie fiel nicht. Sie stand.
Die Fae sprach weiter, ratterte Begriffe herunter: Zonen, Fristen, temporäre Papiere. Worte, die wie Rauch durch Vela Kopf zogen – flüchtig, kaum greifbar. Sie hörte sie, aber sie sanken nicht ein. Oder vielleicht war da einfach kein Platz mehr in ihr, nach all dem, was schon gewesen war.

Ein letztes Nicken. Die Tür öffnete sich. Keine Verabschiedung. Nur: raus.

Velas trat wieder ins Freie. Ihre Beine bewegten sich von allein, wie aus Gewohnheit – nur weg. Nur atmen.

Und dann war da Luft. Nicht nur Sauerstoff. Sondern: Sylaris.

Die Stadt stand nicht da, um sie zu empfangen – sie wartete nur. Beobachtete. Der Himmel über ihr blieb grau, matt und glänzend wie geschmolzenes Silber, das über die Dächer floss. Es roch nach Regen. Nicht nach dem Bedrohlichen, sondern dem Versprochenen. Etwas, das Kommen würde, um zu reinigen. Vielleicht zu beginnen.

Die Luft war voller Magie. Nicht grell, nicht laut. Einfach da. Wie etwas, das schon immer da gewesen war und sich nur nicht mehr versteckte. Sie war kein Sturm. Sie war ein Atemzug.

Velas schloss die Augen.

Einatmen. Ausatmen. Noch einmal.

Etwas in ihr – das, was immer gezittert hatte – wurde still. Nur für einen Moment. Aber es war da. Und es reichte.

Die Reise war vorbei.

Jetzt begann etwas anderes.

Etwas, das noch keinen Namen trug.

Aber sie würde ihn finden.

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